8 Uhr 30

Morgens in der S-Bahn. Zwischen zwei Haltestellen.
Alle Plätze sind belegt. Die meisten sind in ihre Zeitungen vertieft. Oder auf dem Weg zu Haltungsschäden, weil sie reglos in ihre Smartphones stieren und nur hin- und wieder Daumen-Gymnastik auf den Minitasten vollführen.

Ich sitze im hinteren Teil des Waggons, auf den Königsplätzen. So nenne ich den Doppelsitz, der die letzte Sitzreihe abschließt und sich genau in der Verlängerung des schmalen Gangs befindet, von dem aus man den besten Überblick genießt.

Eine Gruppe von vier Mädchen und fünf Jungs im Alter von acht bis zehn Jahren steigt beim nächsten Halt zu, stellt sich in den hinteren Eingangsbereich, der höchstens vier Schritte von mir entfernt ist und lärmt vor sich hin.
Lärmen, weil eine Gruppe Kinder in diesem Alter nie völlig stillschweigend bleibt. Geschulte S-Bahn-Fahrer:innen blenden das aus oder hören zu.
Wenn man nur vier Schritte entfernt sitzt, funktioniert dieses ausblendende Weghören jedoch nur bedingt, vor allem wenn die eigene Morgenlektüre wenig spannend ist.
Wortfetzen von „Lieben“ und „Küssen“ dringen an meine Ohren.

„Hast Du schon mal geküsst“, fragt einer der Jungs ein blondes Mädchen.
„Klar!“
„Wen?“, hakt der neben ihm stehende Junge nach. Die anderen Jungs feixen. Die Mädchen kichern.
"Mäch`sch gern wissa?“, entgegnet das blonde Mädchen.

„Er glaubt`s ihr nicht“, ruft der, der unbedingt den Namen des Geküssten wissen möchte den anderen Jungs zu. Das Mädchen zuckt mit den Achseln.
„Senn` it so neugierig“, mischt sich ein dunkelhaariges Mädchen ein, das sich bei der Blonden untergehakt hat.

„Ihr habt doch noch nie geküsst“, sagt da ein anderer der Jungengruppe, woraufhin alle laut lachen…

Da erhebt sich eine ältere Frau aus der Sitzgruppe vor den Kindern, steht auf, tritt auf die Gruppe zu und schreit in gebrochenem Deutsch:
„Schämt Euch! In Eurem Alter hat die Liebe nicht zu interessieren. Dafür seid Ihr zu jung. Da küsst man nicht. Pfui! Das ist unanständig!“

Die Kinder fahren zusammen, schauen erschrocken, verdutzt, nicht wissend wie ihnen geschieht, zwei der Mädels flüchten zu mir in den hinteren Waggonteil.
Einer der Jungen wagt, laut zu lachen, woraufhin die ältere Frau, die ein Kopftuch und einen dunklen Wollmantel trägt, der vorne auseinander klafft und damit den Blick frei gibt auf einen selbst gestrickten grün-gelb geringelten Wollpullover und einen weiten faltigen Rock. Die Frau schreit den Jungen in einer mir fremden Sprache an und setzt sich wieder hin.

Da erhebt sich eine andere Frau, aus der Sitzgruppe vis-à-vis von mir. Sie ist höchstens vierzig, trägt einen beigefarbenen Plüschmantel, ist blond, stark wimperngetuscht und verströmt einen interessanten, orientalischen Parfumgeruch, der schon die ganze Fahrt den hinteren Wagenteil in eine Duftwolke hüllt.
Sie drängt sich zwischen den vier Kindern, die noch in der Mitte stehen hindurch, tritt bis dahin, wo die Alte sitzt und ruft nun ihrerseits lauthals, ebenfalls nicht ganz akzentfrei:
„DAS ist rassistisch was Sie da machen. Sie sind rassistisch. Lassen Sie die Kinder in Ruhe!“
Und zu den Kindern gewandt, meint sie:
„Lärmt ruhig weiter! Ihr dürft das und lasst Euch von so einer bloss nicht den Mund verbieten!“

Die anderen beiden Mädchen, die noch stehen, kriegen einen roten Kopf und ziehen sich nun auch in den hinteren Waggonteil zu mir zurück, die Jungs wissen nicht recht, wie sie gucken sollen…

Es ist plötzlich mucksmäuschenstill im Waggon.
Nur das Rascheln von Zeitungspapier ist zu hören.

Ich blicke auf die beiden Fahrgäste, die jeweils links und rechts direkt mir gegenüber auf den Gangplätzen sitzen und scheinbar am liebsten hinter den schwarzen Buchstaben verschwinden würden, denn sie halten ihre Zeitungen scheinbar nun noch ein Stückchen höher.
Auf der einen Rückseite lese ich:
„Der Islam gehört nicht zu Sachsen“ widerspricht Tillich…
Auf der anderen Zeitungsrückseite, die eben umgeblättert wurde, steht in großen Buchstaben geschrieben:
Kretschmann: „Der Islam gehört zu uns!“

"Nächste Haltestelle: Hauptbahnhof" - tönt es aus den Lautsprechern.
Zeitungen rascheln. Ein Handy piepst.
Die blonde Plüschfrau und die Kinder steigen aus!
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